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MaximilianGierl

Der Fall Morteratsch


30.12.2015. Es ist Spätsommer, gefühlt, wenn auch kalendarisch Winter. Ein Kollege, den ich ehemals als Patienten kennen lernte, fragte mich ob ich Lust auf eine Tour habe. Er habe da etwas im Kopf. Piz Morteratsch, der 3751m hohe, stolze Berg der Teil des berühmten Festsaales der Alpen ist. Direkt östlich schliesst sich diesem der Biancograt an, dieses elegantes weisse Stück Erde.

Im rechten Bilddrittel der Biancograt, gesehen vom Spraunzagrat kurz unterhalb des Gipfels des Pia Morteratsch

Aufgrund des milden Herbstes und des nahezu ausgebliebenen Schneefalls in Graubünden planen wir eine Besteigung via Spraunzagrat mit Überschreitung ins Val Rosegg. Am Vorabend wollen wir auf die Chamanna Boval aufsteigen um am morgen rasch am Einstiegspunkt zu sein.

Bereits nach Sonnenuntergang brechen wir in Richtung Hütte auf. Zu Anfang noch knochentrockene Wanderautobahn zwingt uns der Schlussanstieg noch zu einigen Kunstturneinlagen auf Ausläufern gefrorener Wasserfälle. Bereits hier hatte sich die Mitnahme von 2 Eispickeln bewährt.

Nach gemütlichem Hüttenabend mit üblicher Schneeschmelzorgie und ausreichender Stärkung fielen wir erst nach Mitternacht ins Bett.

Blick Richtung Biancograt

Aufstehen um 04:00 Uhr, kurzes Frühstück. Gegen 5 Uhr Abmarsch. Kommen wir am Anfang noch gut vorwärts so zeigt sich am Einstieg bereits der Schnee von seiner tiefen Seite.

Wir lassen uns nicht entmutigen, der Fels erscheint trocken. Nachdem die Einstiegsstufe geknackt ist kommen wir relativ zügig voran.

Kurz nach dem Einstieg

Nach bereits 3 Stunden Kletterei gelangen wir auf den Gletscher und können diesen relativ mühelos passieren. Wir wähnen uns bereits kurz vor der eigentlichen Schlüsselstelle, der ausgesetzte Mittelteil.

Es folgt wunderschöne Kletterei in bestem Granit, zum Teil Mixed Gelände.

Der Schlussteil erscheint uns von unserer Perspektive aus als mehrheitlich schneefrei und gut kletterbar. Das Topo beschreibt die Schwierigkeiten als mehrheitlich 2, Stellen 3. Gegen 11 erreichen wir die Scharte nach der Abseilstelle. Wir überdenken unsere Deadline mit 12 Uhr als Umkehrpunkt und beschliessen ohne grössere Diskussionen, dass der 400 hm lange Schlussgrat wohl innert 2 bis 3 Stunden machbar sein sollte.

Doch ab circa 3450 Metern offenbarte sich ein anderes Bild. Viel Schnee, zum Teil Eis. Immer wieder werden wir gezwungen in die exponierte Nordflanke auszuweichen. Auf einem schmalen Felsplateau legen wir beide die Steigeisen an. Vielfach war ein Klettern am laufenden Seil schlicht zu gefährlich. Zu Spärlich waren die Sicherungsmöglichkeiten ob des Schnees. Grob überschlagen hatten wir zwischen 6 bis 8 Stunden für den gesamten Grat bis zum Gipfel gerechnet. Die Stunden waren wie Minuten vergangen, es war klar dass wir unser Ziel deutlich verfehlen würden. Ein Gratturm folgte auf den nächsten, es schien nicht enden zu wollen. Irgendwann war ich soweit, dass ich schlicht hoffte vor Sonnenuntergang am Gipfel zu sein. Ein Biwak wäre so oder so nicht zur Diskussion gestanden. Eine Nacht bei zu erwartenden Minus 20 Grad bewaffnet mit nur einem dünnen Sommerschlafsack wäre rational nicht zu vertreten gewesen. Beide wussten es, gesprochen wird in solchen Situationen kaum. Warum auch, wenn der Point of no return weit überschritten ist.

Immer später wurde es, bei Sonnenuntergang befand ich mich in der Letzten Seillänge. Es galt nur mehr einen Turm zu bezwingen. Ich hatte dieses Erdhaufen bereit einige Male verflucht im Laufe des Tages, aber der letzte Turm liess mir Schimpftiraden der aussergewöhnlichen Sorte über die Lippen gehen. Eine 3 Meter hohe Felswand galt es zu überwinden, oben mit Lockerschneeauflage in eher plattigem Gelände. Nach kurzem Studium entschied ich mich für die Mogelvariamte. mit Aufstieg über zwei Friends an einer Schlinge. Mit mehr Kraft als Technik schaffte ich das letzte Hindernis und baute den letzten Standplatz des Tages. Es war Vollbracht, die Gipfelfirnkuppe erschien uns wie ein Parkspaziergang.

Den Gipfel erreichten wir am 30.12.2016 um 16:38 Uhr. Es dämmerte bereits. Ganze 12 Stunden hatten wir gebraucht. Gezeichnet, gewissermassen glücklich aber auch in Sorge wegen des bevorstehenden Abstieges umarmten wir uns.

Blick vom Gipfel Richtung Piz Rosegg

Im Abstieg fanden wir immerhin eine Spur vor, die Spurenlage kann man jedoch oftmals nur als direkt bezeichnen. Bis zur Ankunft in Pontresina benötigten wir weitere 7 Stunden. Gesamthaft waren wir 19:23 Minuten unterwegs. Ich erlitt Erfrierungen an 3 Fingern der linken Hand.

 

Nachwort:

Ich habe diese Tour beschrieben weil sie mir immer wieder im Kopf umhergeht. Grundsätzlich ist ja alles unfallfrei über die Bühne gegangen. Dennoch frage ich mich wie weit man wirklich Grenzen verschieben sollte.

Der Umkehrzeitpunkt von 12 Uhr wurde klar und bewusst übergangen. Etwas, das ich normalerweise niemals mache. Klar am Ende bleibt es eine Tour, die ich nie vergessen werde, aber dafür haben wir beide auch unser Leben in die Waagschale gelegt. Ein hoher Preis, gehen wir doch nach Draussen um uns später daran zu erinnern. Kein Gipfel dieser Erde ist es wert dafür zu sterben.

#bewusst.leben.

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